Das Profil der PolitikerInnen linker Parteien in grossen Schweizer Städten, 1910-2020.

N°38, Juni 2024
Baptiste Antoniazza (Universität Lausanne), André Mach (Universität Lausanne) & Michael Andrea Strebel (Universität Bern),

June 17, 2024
How to cite this article:

Antoniazza, B., Mach, A., & Strebel, M. A. (2024). Das Profil der PolitikerInnen linker Parteien in grossen Schweizer Städten, 1910-2020. Social Change in Switzerland, N°38. doi: 10.22019/SC-2024-00004

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Zusammenfassung

Die grossen Schweizer Städte haben zwei Perioden der politischen Dominanz der Linken erlebt: in der Zwischenkriegszeit und seit den 1990er Jahren. Diese Studie untersucht, wie sich das sozio-professionelle Profil der gewählten VertreterInnen der linken Parteien in den Exekutiv- und Legis-lativorganen der vier grössten Schweizer Städte (Basel, Genf, Lausanne und Zürich) zwischen 1910 und 2020 verändert hat. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts handelte es sich mehrheitlich um ArbeitnehmerInnen aus der Unterschicht, die einen manuellen Beruf ausübten und keinen Hochschulabschluss besassen. Ab 1980 stammen die gewählten Vertreter der städtischen Linken mehrheitlich aus der lohnabhängigen Mittelschicht, und haben ein höheres Bildungsniveau und einen höheren beruflichen Status. Unter den PolitikerInnen der Linken ist dieser Prozess insbe-sondere durch das fast vollständige Verschwinden von Angehörigen der Arbeiterklasse sowie den Aufstieg der soziokulturellen SpezialistInnen gekennzeichnet, die im Gesundheits- und Sozialwe-sen, im Bildungswesen und in der Kulturbranche arbeiten.


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Einführung[1]

In der Schweiz sind die grossen Städte historisch gesehen Hochburgen der linken Parteien. Während die politischen Institutionen auf Bundes- und Kantonsebene – mit einigen wenigen Ausnahmen – weiterhin von rechten Parteien dominiert werden, ist dies in den städtischen Exekutiven und Legislativen nicht der Fall. Die Linke erlebte dort zwei Perioden der Dominanz. Die erste fand in der Zwischenkriegszeit statt, als insbesondere die Städte Basel, Lausanne, und Zürich, wie mehrere europäische Städte, zeitweise von sozialdemokratischen Mehrheiten verwaltet wurden. Diese Zeit wird oft als “kommunaler Sozialismus” bezeichnet. Die zweite Phase begann in den 1990er Jahren. Seitdem werden die grossen Schweizer Städte von linken Koalitionen regiert, die aus der Sozialdemokratischen Partei, den Grünen und den Parteien der radikalen Linken bestehen.

Als die linken Parteien in der Zwischenkriegszeit erstmals an die Macht kamen, lebte in den Schweizer Städten ein Grossteil der Arbeiterschaft – eine Konsequenz der Industrialisierung und Urbanisierung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (siehe Walter 1994). Zu dieser Zeit bildeten die Arbeiterklassen die Hauptwählerschaft der linken Parteien, welche ihrerseits aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen waren. Es gab lokale Sektionen der Sozialdemokratischen Partei, die 1888 auf nationaler Ebene gegründet worden war, und Sektionen der Kommunistischen Partei, die 1921 gegründet wurde[2]. Als die Städte in den 1990er Jahren wieder nach links umschwangen, hatten sie tiefgreifende sozioökonomische und politische Veränderungen durchgemacht. Erstens hatte die Beschäftigungsstruktur seit den 1970er Jahren einen starken Tertiärisierungsprozess durchlaufen, was den Aufstieg der lohnabhängigen Mittelschicht innerhalb der städtischen Erwerbsbevölkerung begünstigte (siehe Oesch 2006). Zweitens wurden die Städte ab diesem Jahrzehnt bis in die 1990er Jahre hinein von einer regelrechten „urbanen Krise“ geplagt, die sich in erheblichen Bevölkerungsverlusten und der zunehmenden Präsenz von sogenannten „vulnerablen“ Personen manifestierte (Rérat 2016). Drittens entstanden ab den 1970er Jahren im Anschluss an die Ereignisse des Mai 68 „neue soziale Bewegungen“, die ökologisch, feministisch oder pazifistisch ausgerichtet waren (Giugni 1995). Ein Teil ihrer Aktivisten gründete neue Linksparteien, darunter mehrere Umweltorganisationen (die sich 1983 auf nationaler Ebene vereinigten und 1993 den Namen „Die Grünen“ annahmen) oder radikale Linksparteien wie die Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH) in den Deutschschweizer Städten. Andere AktivistInnen schlossen sich der Sozialdemokratischen Partei an. Die SP erweitert ihr Wahlangebot schrittweise, um die lohnabhängigen Mittelschichten zu erreichen (Rennwald 2015).

Unsere Studie befasst sich mit der sozio-professionellen Entwicklung der gewählten VertreterInnen in den vier grössten Schweizer Städten: Basel, Genf, Lausanne und Zürich. Sie knüpft insbesondere an die Arbeiten von Pilotti (2017) zum Profil der eidgenössischen Parlamentarier und von Di Capua (2022) und Lasseb (2024) zu den Mitgliedern der städtischen Legislativen und Exekutiven an, die auf die geringe Repräsentativität bestimmter Bevölkerungsschichten in den repräsentativen politischen Institutionen hinweisen. Wir beschäftigen uns jedoch speziell mit den gewählten VertreterInnen der linken Parteien. Inwiefern wirken sich die Veränderungen, die wir oben erwähnt haben, auf ihr sozio-professionelles Profil aus? Teilen die linken MandatsträgerInnen, die in der Zwischenkriegszeit die Städte verwalteten, ähnliche Merkmale mit ihren KollegInnen, die den Koalitionen angehörten, die seit den 1990er Jahren die grossen Städte regieren?

Die Entwicklung der Linken in den grossen Städten

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gewann die Sozialdemokratische Partei, insbesondere durch die schrittweise Einführung des Proporzwahlrechts, Sitze in den Parlamenten und später in den Regierungen der grossen Städte. Wie in Abbildung 1 zu sehen ist, kam es ab 1928 in Zürich, 1934 in Lausanne, und 1935 in Basel zu einem Linksruck in den Stadtverwaltungen[3]. Diese Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, in der es zu einer sehr starken politischen Polarisierung kam, war die Zeit des „kommunalen Sozialismus“. Dieser war in mehreren europäischen Städten durch den Willen gekennzeichnet, die öffentlichen Dienstleistungen zugunsten der Arbeiterklasse auszubauen, insbesondere in Bezug auf die öffentliche Wasser, Gas- und Stromversorgung (Dogliani 2002). In der Schweiz bekämpften die linksgerichteten Stadtverwaltungen, die mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise konfrontiert waren, vor allem die Arbeitslosigkeit, die die Stadtbevölkerung hart traf. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellen jedoch trotz des Aufkommens der radikalen linken Parteien die rechten Parteien in den grossen Städten wieder die Mehrheit. Diese Periode, die Anfang der 1950er Jahre begann, war von Wirtschaftswachstum und politischer Konkordanz geprägt. So ist der Übergang von einer Logik der Konfrontation zu einer Logik der relativen Zusammenarbeit und der Integration der linken Parteien zu beobachten, die sich in einer Minderheitsbeteiligung in den Exekutiven der Städte niederschlägt.

Abbildung 1: Anteil der Sitze von linken Koalitionen in den Exekutiven der vier Städte, 1900-2020

Ab den 1990er Jahren ändern sich die Machtverhältnisse erneut. Denn ab 1989 in Lausanne, 1990 in Genf, 1994 in Zürich, und 1996 in Basel schwenkten die grossen Schweizer Städte alle dauerhaft nach links und wurden von Koalitionen regiert, die die Sozialdemokratische Partei, Parteien der radikalen Linken und die Grünen umfassten. Die Koalitionen unterscheiden sich somit von denen der 1930er Jahre. Sie können mit dem gleichgesetzt werden, was Gyford (1985) in Grossbritannien als „neue urbane Linke” bezeichnet hat, die sich vor allem aus der lohnabhängigen Mittelschicht zusammensetzt und diese anspricht, die nun die Mehrheitswählerschaft der linken Parteien bildet. Diese neue urbane Linke fördert unter anderem feministische oder ökologische Themen, die an die neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre anknüpfen. So ist ihre Arbeit geprägt vom Ausbau des öffentlichen Verkehrs und von kulturellen Einrichtungen, von der Erhaltung der Umwelt oder der Verbesserung der Lebensqualität der Bewohner (Le Galès 1990). Im Laufe der 1980er Jahre entwickelten die Stadtoberhäupter auch eine neue, „unternehmerische“ Entwicklungspolitik, indem sie den Schwerpunkt auf die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit der Städte legten, insbesondere durch neue Strategien zur Anziehung privater Investitionen (Quilley 2000).

Darstellung der Daten

Im Rahmen unseres Forschungsprojekts haben wir eine biografische Datenbank erstellt, in der 2743 Personen erfasst sind, die zu sechs verschiedenen Zeitpunkten in den Exekutiv- und Legislativorganen der Städte Basel, Genf, Lausanne und Zürich vertreten waren[4]. Unter diesen gewählten Personen befinden sich 1252 Mitglieder linker Parteien, darunter 928 Sozialdemokraten, 198 Mitglieder der verschiedenen Parteien der radikalen Linken[5] und 126 Grüne. Darüber hinaus gab es 1491 Mitglieder, die rechten Parteien angehörten. Bis 1957 handelt es sich ausschliesslich um Männer: Das Stimm- und Wahlrecht für Frauen auf kantonaler und kommunaler Ebene wurde erst 1957 im Kanton Waadt, 1960 in Genf, 1966 in Basel-Stadt und 1970 in Zürich eingeführt. Die Daten wurden in sechs Kohorten aufgeteilt: 1910, 1937, 1957, 1980, 2000 und 2020. Die Daten wurden in den kantonalen und kommunalen Archiven der vier Städte gesammelt. Um das sozio-professionelle Profil der gewählten Volksvertreter zu analysieren, wurden Daten zum Bildungsniveau (bestimmt durch den Erwerb oder Nicht-Erwerb eines Hochschulabschlusses) und zum Beruf, den sie zum Zeitpunkt ihrer Wahl ausübten, gesammelt. Die Berufe wurden in sechs Kategorien und 22 Unterkategorien kodiert, wobei auf frühere Arbeiten zurückgegriffen wurde, die sich speziell mit der Klassifizierung der wichtigsten Berufe der politischen Elite befassten (Gruner 1970; Best und Cotta 2000; Pilotti 2017; Di Capua 2022)[6]. In einem zweiten Schritt haben wir die Berufe nach den acht Berufskategorien des von Oesch (2006: 66-69) entwickelten Klassenschemas kodiert. Dieses berücksichtigt die Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur seit den 1970er Jahren, wie das Wachstum des Dienstleistungssektors oder die Expansion des öffentlichen Sektors, und ermöglicht es somit, die Position der Berufe der linken PolitikerInnen in der sozialen Hierarchie der Berufe besser zu verorten. Sie berücksichtigt die Kompetenzen, den Grad der Autonomie und die Arbeitslogik. Diese zweite Klassifizierung ermöglicht es somit, die Klassenzugehörigkeit sowie deren Veränderungen unter den PolitikerInnen von Linksparteien genauer zu zeigen.

Akademisierung der VolksvertreterInnen

Wie in Abbildung 2 unten zu sehen ist, verändert sich der Anteil der HochschulabsolventInnen unter den gewählten linken PolitikerInnen über die Zeit. Bis 1937 lag er bei 20 Prozent. Dieser im Vergleich zur Rechten (50%) sehr niedrige Anteil erklärt sich durch den hohen Anteil sozialdemokratischer und kommunistischer Arbeiter in den Parlamenten, auf den wir weiter unten noch eingehen werden. Dies könnte laut Gaxie und Godmer (2007: 116) auf das Bestreben der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien zurückzuführen sein, „Klassenquoten“ einzuführen, um die Vertretung von Personen aus der Arbeiterklasse zu fördern. In der Folgezeit stieg der Anteil der AkademikerInnen in allen linken Parteien stetig an. Ein wichtiger Wendepunkt trat zwischen 1980 und 2000 ein. Im Jahr 2000 war der Anteil der AkademikerInnen unter den sozialdemokratischen und grünen PolitikerInnen höher als unter den PolitikerInnen der bürgerlichen Parteien, und mehr als jede(r) zweite linke PolitikerIn hatte einen Hochschulabschluss. Im Jahr 2020 haben nun fast drei Viertel der linken PolitikerInnen in den grossen Schweizer Städten einen Hochschulabschluss. Die Grünen haben seit ihrem Bestehen den höchsten Anteil an HochschulabsolventInnen[7], obwohl ihnen 2000 und 2020 die Sozialdemokraten dicht folgen. Dieser seit 1980 sehr hohe Anteil lässt sich durch die unterschiedliche Entstehungsgeschichte der Grünen erklären, die im Gegensatz zu den Sozialdemokraten aus den neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre und nicht aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen sind.

Abbildung 2: Anteil der gewählten VolksvertreterInnen in den vier grossen Städten mit Hochschulabschluss, 1910-2020

Anmerkung: N: 1910 = 395, 1937 = 425, 1957 = 452, 1980 = 434, 2000 = 455, 2020 = 414. Die gestrichelte Linie zeigt den Durchschnitt für alle PolitikerInnen. Quelle: Datenbank der Schweizer Eliten.

Der Anstieg des AkademikerInnenanteils unter den linken PolitikerInnen spiegelt die Demokratisierung des Zugangs zur Hochschulbildung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wider. Dies allein erklärt jedoch nicht den dramatischen Anstieg des AkademikerInnenanteils in allen linken politischen Gruppierungen, der nun höher ist als bei den bürgerlichen Parteien oder in der allgemeinen Erwerbsbevölkerung der vier Städte. Eine weitere Erklärung ist daher der tiefgreifende Wandel in den Berufen, die von linken PolitikerInnen ausgeübt werden.

Von ArbeiterInnen zu soziokulturellen SpezialistInnen

In Abbildung 3 unten ist zu erkennen, dass sich die gewählten linken PolitikerInnen in allen Zeiträumen überwiegend aus der Arbeitnehmerschaft rekrutierten. Während 1910 die Beschäftigten des Privatsektors dominierten, stellten die Beschäftigten des öffentlichen Sektors in der Folgezeit zu jedem Zeitpunkt die grosse Mehrheit (zwischen 35% und 47%). Unter diesen ist insbesondere über den gesamten Zeitraum hinweg ein erheblicher Anteil an LehrerInnen zu verzeichnen (zwischen 16% und 35% der Beschäftigten im öffentlichen Dienst). Historisch gesehen sind LehrerInnen eine wichtige Berufsgruppe der Linken. Die Verteilung der PolitikerInnen linker Parteien innerhalb der Berufsgruppen unterscheidet sich somit von den PolitikerInnen der bürgerlichenParteien, bei denen es sich in den meisten Fällen um Selbständige oder UnternehmerInnen handelt. Bei den linken Parteien ist ihr Anteil über den gesamten Zeitraum hinweg sehr gering, ausser 1910, als es sich in der Regel um kleine Geschäftsleute und insbesondere CafébesitzerInnen, handelte. Was die selbstständigen linken PolitikerInnen betrifft, so ist ihr Anteil bis 1957 marginal, steigt aber seit 1980 an. Ab dem Jahr 2000 war einer von vier linken PolitikerInnen selbstständig. Über den gesamten Zeitraum hinweg stellen ausserdem BerufspolitikerInnen einen wichtigen Anteil an den PolitikerInnen der linken Parteien (zwischen 9% und 17%). Seit 1937 und bis zum Jahr 2000 handelt es sich dabei mehrheitlich um GewerkschaftssekretärInnen. Im Jahr 2020 werden die GewerkschaftssekretärInnen jedoch von den SekretärInnen gemeinnütziger Organisationen (Sozial-, Kultur- oder Naturschutzorganisationen) verdrängt. Der Anstieg der nicht erwerbstätigen Personen im Jahr 2020 (10 %) ist auf den Anstieg der Studierenden innerhalb der linken Parteien zurückzuführen.

Abbildung 3: Verteilung der gewählten VertreterInnen der vier Städte nach Berufskategorie, 1910-2020

N: 1910 = 405, 1937 = 450, 1957 = 477, 1980 = 468, 2000 = 480, 2020 = 429. Quelle: Datenbank der Schweizer Eliten.

Abbildung 4, die nach der Berufsklassifikation von Oesch (2006) erstellt wurde, veranschaulicht die wichtigste Veränderung, die sich über den gesamten Zeitraum vollzogen hat: das weitgehende Verschwinden von MandatsträgerInnen, die einen manuellen Beruf ausübten (repräsentiert durch ProduktionsarbeiterInnen). Während diese zwischen 1910 und 1957 die zahlenmässig stärkste Kategorie darstellten, betrug ihr Anteil im Jahr 2020 nur noch 1%. Der Anteil der ProduktionsarbeiterInnen ist nun sogar unter den PolitikerInnen der bürgerlichen Parteien höher (5 % im Jahr 2020). Die ProduktionsarbeiterInnen, deren Anteil an der Erwerbsbevölkerung seit dem Zweiten Weltkrieg „geschmolzen“ ist, werden gewissermassen durch soziokulturelle SpezialistInnen „ersetzt“, also Personen, die in den Bereichen Soziales, Medizin, Bildung und Kultur arbeiten. Dieses fast vollständige Verschwinden von Personen, die einen manuellen Beruf ausüben, trägt dazu bei, dass die Vertretung der Arbeiterklasse in den PolitikerInnenhäusern der linken Parteien zugunsten der lohnabhängigen Mittelschichten abnimmt, da diese nicht durch eine Zunahme von PolitikerInnen der „neuen Arbeiterklasse“ (d. h. Büroangestellte und DienstleistungsarbeiterInnen) kompensiert wird.

Die Mitglieder linker Exekutiven zeichnen sich jedoch über den gesamten Zeitraum hinweg dadurch aus, dass sie vor ihrer Wahl einen nicht-manuellen Beruf ausübten, in der Regel als Führungskraft in der öffentlichen Verwaltung, als LehrerInnen oder als PolitikerInnen. Linke Exekutivmitglieder unterscheiden sich auch durch ein höheres Bildungsniveau von ihren KollegInnen, die in den Parlamenten sitzen (für weitere Details siehe Antoniazza 2024).

Abbildung 4: Verteilung der gewählten VertreterInnen linker Parteien in Basel, Genf, Lausanne und Zürich nach Berufskategorie aus dem Klassenschema von Oesch (2006), 1910-2020

N: 1910 = 109, 1937 = 226, 1957 = 196, 1980 = 206, 2000 = 259, 2020 = 241. Quelle: Datenbank der Schweizer Eliten.

Dieser Wandel des sozio-professionellen Profils der PolitikerInnen der linken Parteien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich zum einen durch die Tertiärisierung der Beschäftigungsstruktur seit den 1970er Jahren und die immer geringere Anzahl von ProduktionsarbeiterInnen erklären. Zudem hängt er damit zusammen, dass im Zuge der neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre zahlreiche AktivistInnen in die Parlamente und später in die Regierungen einzogen, wo sie neue Parteien gründeten, oder bestehenden Bündnissen beitraten. Diese neueren PolitikerInnen gehören in der Regel der lohnabhängigen Mittelschicht an und verfügen häufig über eine akademische Ausbildung. Somit hat dieses neue Profil von MandatsträgerInnen linker Parteien mit höherem beruflichen Status nach und nach das ältere Profil von MandatsträgerInnen, die einen manuellen Beruf ausüben, abgelöst.

Schlussfolgerung

Das sozio-professionelle Profil der gewählten VertreterInnen der linken Parteien hat sich im Laufe des Untersuchungszeitraums stark verändert. Zwischen 1910 und 1957 handelte es sich mehrheitlich um ArbeitnehmerInnen, die einen manuellen Beruf ausübten und keinen Hochschulabschluss hatten, was sie von den meisten Mandatsträgern der bürgerlichen Parteien unterscheidet. So ermöglichte die Öffnung der politischen Institutionen für Mitglieder linker Parteien zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Vertretung von Individuen aus der Arbeiterklasse, die niedrig qualifizierte Berufe ausüben. Der Zeitraum von 1980 bis 2020 ist durch zahlreiche Veränderungen gekennzeichnet. Zunächst einmal stieg der Anteil der linken PolitikerInnen mit Universitätsabschluss stark an und erreicht bei den Sozialdemokraten und Grünen im Jahr 2020 über 75 Prozent, womit er Anteil unter den PolitikerInnen der bürgerlichen Parteien übertrifft.

Neben dem Anstieg des Bildungsniveaus ist auch ein starker Anstieg des beruflichen Status unter den PolitikerInnen der linken Parteien zu beobachten, bei dem Personen aus der lohnabhängigen Mittelschicht die Mehrheit bilden. Dieser Prozess ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass es unter den gewählten Vertretern der linken Parteien kaum noch ArbeiterInnen gibt. Diese werden gewissermassen durch ArbeiterInnen aus dem Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen „ersetzt“. Ausserdem steigt auch unter den PolitikerInnen der linken Parteien der Anteil der Selbstständigen. Diese Elemente tragen zu einer gewissen „Ähnlichkeit“ des Profils der PolitikerInnen linker und bürgerlicher Parteien bei, die Ilonszki (2007) im Fall der nationalen Parlamente in Europa in Bezug auf Bildungsniveau und ausgeübten Beruf nachgewiesen hat. In den grossen Schweizer Städten setzte dieser Prozess jedoch viel später ein, und es blieben wichtige Unterschiede bestehen. Erstens: Unter den selbstständigen PolitikerInnen ist der Anteil der Rechtsanwälte in den bürgerlichen Parteien nach wie vor höher als in den linken, wo eher ArchitektInnen, IngenieurInnen oder ÄrztInnen vertreten sind. Zweitens ist der Anteil der UnternehmerInnen an den linken PolitikerInnen immer noch marginal, während überproportional viele Beschäftigte des öffentlichen Dienst vertreten sind.

Diese Veränderung des Profils der gewählten VertreterInnen der Linksparteien geht mit einer weiteren wichtigen Veränderung ihrer Wählerschaft einher: einer Verschiebung des Wahlverhaltens der Arbeiterklasse, die in der Schweiz bis in die 1970er Jahre mehrheitlich für die Sozialdemokratische Partei stimmte. Seit den 1990er Jahren wählt diese jedoch in wachsendem Masse die Schweizerische Volkspartei (SVP) (Rennwald und Zimmermann 2016).

Seit linke Parteien in den 1990er Jahren die Macht in den grossen Städten übernommen haben, besteht eine Übereinstimmung zwischen dem soziologischen Profil der linken PolitikerInnen und dem ihrer wichtigsten Wählerschaft, der lohnabhängigen Mittelschicht. Auf den anderen Ebenen des föderalen Systems der Schweiz bleiben die linken Parteien jedoch in der Minderheit. Um ihre Wählerschaft zu erweitern, müsssten linke Parteien ihre Verankerung in der Arbeiterklasse verstärken. Ein Schritt in diese Richtung wäre eine bessere Vertretung dieser Volksschichten in ihren gewählten Fraktionen.

  1. Diese Studie ist Teil des Projekts „Local Power Structures and Transnational Connections. New Perspectives on Elites in Switzerland, 1890-2020“, das vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird (Vertragsnummer: CRSII5_183534), siehe Projekt-Website (https://wp.unil.ch/sinergia-elites/). Für eine detailliertere Analyse der gewählten Vertreter der städtischen Linken siehe Antoniazza et al. (2023) und Antoniazza (2024).
  2. Letztere wurde 1940 von den Bundesbehörden verboten, erlebte aber 1944 mit der Gründung der Partei der Arbeit der Schweiz eine Form des Wiederauflebens.
  3. In der Stadt Genf gab es zu dieser Zeit keine linke Mehrheit, allerdings erlebte der Staatsrat auf kantonaler Ebene zwischen 1933 und 1936 ein sozialistisches Zwischenspiel.
  4. Sämtliche Daten sind online auf der Datenbank der Schweizer Eliten verfügbar, die vom Schweizer Eliten Observatorium (Observatoire des élites suisses (OBELIS)) an der Universität Lausanne eingerichtet wurde (https://www2.unil.ch/elitessuisses/).
  5. Als Parteien der radikalen Linken gelten die Kommunistische Partei, die Arbeiter- und Volkspartei, die Partei der Arbeit, die Progressive Partei (POCH), Frauenliste, und Frauen Macht Politik!
  6. Die Quote der fehlenden Daten betrug 6,1% (168) für das Bildungsniveau und 1,2% (34) für den ausgeübten Beruf.
  7. Im Jahr 1980 zählten wir jedoch nur neun grüne PolitikerInnen, die ausschliesslich in Lausanne gewählt wurden.

Bibliographie

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